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Schatten der Sonne

Der folgende Text ist eine Leseprobe.

Prolog

Jeder von uns hat eine Geschichte zu erzählen

Vielleicht sollten Märchen eher beginnen mit "Es war einmal..." -
es sollten schöne, reiche Prinzessinnen vorkommen und tapfere Helden. Aber an all das erinnere ich mich nicht, wenn ich zurückblicke auf das, was ich damals in einem kleinen Küstenstädtchen namens Amber hörte.

Ihre Hoheit, die Gräfin von Luticies - ihren vollen Namen habe ich längst vergessen - hatte mich nach meinem Abschluss an der Universität zu Arbour in den Staatsdienst berufen, um für sie Geschäfte in den weiter entfernten Regionen des Reiches zu übernehmen. Ich war jung, voller Tatendrang und als Frischling, der die Sicherheit der Alma Mater gerade erst verlassen hatte, schien mir der zugedachte Posten in der Tat wie ein Geschenk des Himmels. Die Gräfin war eine recht junge Frau mit modernen Ansichten und ich gebe gern zu, dass sie einer der Gründe war, aus welchen ich die Aufgabe derart interessiert verfolgte.

Luticies hatte es nach Aufhebung vieler Erbprivilegien in Friedenszeiten zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht, wodurch man sich in gewissen Kreisen verständlicherweise nicht nur Freunde schuf. Man muss bedenken, dass sich für viele der Dinge, die uns in Luticies damals freiwillig gegeben wurden, unsere Vorfahren noch wenige Generationen zuvor auf Schlachtfeldern die Köpfe eingeschlagen haben. In Anbetracht dieses Fortschritts schürte eine gesunde Dosis Widerstand daher nur noch mehr meinen Ehrgeiz.

Es heißt in klugen Büchern, man solle die Welt verändern solange man jung ist. Mit dem Alter wird die Liebe am Leben und der Veränderung von Vernunft, Gemächlichkeit und schließlich dem allgegenwärtigen Tod besiegt. Aber an einigen besonderen Tagen mag sich diese Welt trotz jungen Jahren nur schwerlich fortbewegen und das Rad der Geschichte lehrt dem heranwachsenden Schnösel erneut, dass zwischen gute Ideen auf dem Papier und deren Umsetzung in der Praxis Welten liegen können, voller starrköpfiger Stadträte und Verhandlungen bis spät in die Nacht.

Meine erste Aufgabe als konsularischer Vertreter der Obrigkeit bestand darin, die Bibliothek der freien Reichsstadt Amber zu schließen. Ihre Hoheit vermutete kompromittierendes Material hinter ihren konservativen Mauern und ich durfte mich also - zum ersten Mal - mit handfester Politik auseinandersetzen. Wir hatten damals erst vor kurzem die Antihabitatio aufgehoben, welche das Siedlungsverbot außerhalb der Städte in Brief und Siegel hob. Kein Wunder, dass die Ältesten im Stadtrat auf mich nicht sonderlich gut zu sprechen waren. Schließlich hatten sie damit das exklusive Recht verloren, neues Land urbar zu machen und an zukünftige Einwohner - natürlich weit über Wert - zu verkaufen.

Ich entsinne mich noch als wäre es gestern gewesen, dass ich diese dunkle Gasse entlang ging um den alten Kauz zu treffen, der mir noch am Tag zuvor bei den Verhandlungen im Rathaus schwer zugesetzt hatte. Ich weiß nicht mehr, was genau es war, dass mich an seinen Worten trotz allem faszinierte. Aber aus irgendeinem verrückten Grund konnte ich es kaum erwarten anzuhören, was er mir sagen würde.

Den ganzen Abend hindurch hatte es geregnet und als ich in dieser Nacht im späten Herbst die Straßen von Amber durchquerte, spiegelten die feuchten Steine des Pflasters das fahle Licht des aufgehenden Mondes wieder. Die bläulichen Konturen der Häuser verwischten in der Dunkelheit der Gassen zu Gespenstern, die hinter jeder Ecke auf den Unachtsamen lauerten. Ein beklemmender Nebel stieg auf. Noch einmal sollte ich den viel zu dünnen Mantel über die frierenden Hände ziehen. Ich würde nicht klopfen müssen: die Tür des Querulanten stand offen.

Jeder von uns hat eine Geschichte zu erzählen.
Und diese Nacht sollte die meine schreiben...

Ein Gast

Irgendwo in der Dämmerung des alten Hauses - ein dunkelrotes Glimmen seiner sterbenden Flamme.
Der alte Mann, gebettet zwischen die schweren Lehnen seines Sessels. Seine Augen gerichtet auf die Schatten der Dunkelheit. Zu lange schon nannte er sie einen Teil seiner Seele, als dass ihm Angst machen konnte, was sich in ihnen verbarg. Die Erinnerungen: sie waren das einzige Monster, welches er noch fürchtete und liebte wie kein anderes.

Das Geräusch der Tür kündigte noch vor dem Licht des Kamins einen Besucher an. Mühsam glitten seine Augen ab von den Gedanken der Nacht und richteten ihr schwindendes Licht auf ihren Gast aus der Finsternis.

"Ihr seid gekommen. Es freut mich, dass meine Worte euch doch noch dazu überzeugen konnten!"

"Wenn ihr es sagt." Die dunkle Stimme trat fröstelnd von der abendlichen Kälte in das warme Licht seiner betagten Augen.

"Sagt mir was ist es, dass einen fast blinden Ratsherrn dazu bewegt sein Haupt gegen die Obrigkeit zu erheben: für das Fortbestehen einer heruntergekommenen Bibliothek." Sein Blick erstarrte - sank auf seine Knie und das Bild vor seinen Augen schien mit der sanften Dunkelheit des Zimmers zu verschwimmen.

"Der Staub auf den Büchern." Den überraschten Blick des Jüngeren ignorierend tastete er nach einem Stück Holz und überantwortete es den grellen Flammen seines Kamins. "Ich bin ein alter Mann. In meinem Alter fragt man sich, wie man gehen will. Schweigend und weise, oder laut kämpfend, mit der Chance sich ein letztes Mal zum Narren zu machen. Einige dieser Texte sind älter als ich selbst. Welches Recht haben wir Sterblichen über sie zu urteilen. Ich bin noch nie für's Aufgeben gewesen und zu alt um nun damit anzufangen."

Nein, nicht seine Worte, sondern die Kälte und die Gewissheit, dass es länger dauern würde, hatten mich inzwischen näher an sein Feuer getrieben. Dieser finsteren Nacht war jede Gelegenheit sich aufzuwärmen willkommen. Durch die Schatten der frierenden Hände hindurch beobachtete ich die Farben der wärmenden Flammen mit ihrem einladend behaglichem Licht.

"Ihr jungen Leute aus der Hauptstadt versteht das nicht. Ihr denkt nur an die neuen Dinge und überseht dabei so viel. Wir alle stehen auf der Asche unserer Vorväter und leben mit dem, was sie uns hinterlassen haben. Die Leben und die Geschichten die vergangen sind bleiben ein unschätzbares Mosaik, dass mehr ist als das sichtbare Selbst seiner Bruchstücke. All die Geschichten der Vergangenheit ergeben ein Ganzes." Ein Ganzes ... Diesen Teil hatte ich verstanden. Der Rest war mir leider entgangen, war ich doch viel zu beschäftigt damit den ausgekühlten Mantel auszuziehen. Langsam erweckte die Wärme des Feuers die frierenden Finger zu neuem Leben, die ruhelos über die raue Oberfläche meines Mantels tasteten.

"Das mag sein, allerdings wird das ihre Hoheit wohl kaum zufriedenstellen."

"Das ist eure Sorge, nicht meine. Ihr sagtet, ihr würdet kommen euch die Geschichte der Bibliothek anzuhören. Wollt ihr das nun tun, oder wollt ihr lieber gehen?"

Gehen? In die Kälte? "Ihr sagtet es wäre vielleicht wichtig... - ist es denn die Wahrheit?"

Er schüttelte den Kopf."Nein, die Wahrheit ist nur dass, wofür man sie hält. Wahrheiten gibt es in den Gesetzbüchern eurer Majestät. Was diese Nacht zu bieten hat ist eine Geschichte." Ein Lächeln? Überrascht erforschten die müden Augen eines alten Mannes mein Gesicht. "Habe ich nun eure Erlaubnis fortzufahren?"

Es ist spät, kalt, dunkel und ich hatte nichts besseres vor. Unwillkürlich musste ich an das fahle, bläulich kalte Mondlicht denken, das über die feuchten Steine der Straße meines Heimweges huschte und durch das schmale Fenster der Herberge, auf mein karges Lager und die klammen, kalten Laken fiel. Es gab keinen Zweifel was ich antworten würde.

"Ja."

Ein müdes Lächeln im Gesicht des Alten und seine Gedanken machten sich bereit, eine Geschichte zu erzählen, welche die Nacht ihm erzählte, seit jener Tage, als er ein Teil von ihr war... und sie verlor - an eine Erinnerung, die niemand mehr hören wollte.

Eine neue Kerze wurde entzündet. Ihre strahlende Flamme betäubte die müden Augen und für nur einen Moment schien sich die Welt zurückzudrehen durch die Jahrzehnte, zu einer Jugend, in der das Leben noch ewig schien und Ruhm unsterblich. Die Erinnerung muss sich dem Licht ergeben, sonst ist sie verdammt dazu zu vergehen - mit ihm... und was bliebe dann außer der ewigen Nacht?

"Dann folge mir in ein dunkles Zeitalter. An jenen düsteren Ort, an dem alles seinen Anfang nahm."

Ein Pfad in die Dunkelheit

Dies ist eine Geschichte, wie sie sich findet in jeder neuen Generation seit Anbeginn der Zeit in tausenden Varianten. Sie schrieb nicht die Stimme eines Einzelnen. Wir schrieben sie. Es ist unsere Geschichte. Geboren aus unseren Träumen und Albträumen.

Das Land ist zu dieser Zeit ein Land der Grenzen. Nicht nur zwischen Tälern und Bergen, kleinen Ländereien und großen Reichen, sondern auch zwischen deren Bewohnern. Grenzen, zwischen den noblen Herren in ihren prachtvollen Gutshäusern, Lords und Königen, militärischen Anführern und Dienern. Grenzen, zwischen der Stadtbevölkerung, den Bürgerlichen in hohen Ämtern, Arbeitern, Bauern und Handwerkern. Und auch denen, welche außerhalb stehen. Heimatlosen ohne Besitz, Abenteurern, die Recht wie Pflicht und selbst dem Schutz ihres Lebens entsagten, auf der Suche nach Zukunft und Hoffnung - den "freien Bürgern". Deren einzige Freiheit darin besteht, nicht zu wissen, ob des nächsten Tages Licht sie schauen werden.

Sobald eine Siedlung als Stadt heraustritt aus dem Schatten der Bedeutungslosigkeit und beginnt tatsächlich eine "Stadt" zu sein, benötigt sie Schutz. Einen Patron der ihr erst das Recht gibt das zu bleiben, was sie ist: ein Ort des Handels und des Friedens. So schickt man Steuern und Waffen dem neuen Herrn und hofft im Gegenzug auf gnädige Hand am Schicksal von Tausenden. Aber diese "Zuneigung" hat natürlich ihren Preis: denn Städte unterwerfen sich stets nur dem stärksten Landesfürsten - jemandem, der ihre Dienste, Waffen, Söldner auch bezahlen kann.

Unser Land stand unter der Herrschaft eines knabenhaften Barons zu jener Zeit, der von vielen Seiten bedrängt wurde. Nun, mein junger Herr, ihr seht: zu viel Macht und zu wenig Geld waren schon immer grausame Ratgeber.

Also steigt der Schatten des Krieges nur allzu oft hoch über verwüstete Schlachtfelder und ein verzweifelter Schrei ertönt von den Wäldern und Seen, den Orten an denen die "Freien" leben - oder wie die Politik sie damals nennt: "entbehrliche Restkapazitäten". Es ist ein Schrei nach Vergeltung für ihre Männer, ein Schrei nach Hoffnung für ihre Frauen. Ein Schrei nach Gnade: für ihre Kinder.

Die Schlachtfelder, die stummen Zeugen ewigen Verlusts, Altäre des Terrors und des Chaos. Tempel der letzten Ruhe für dutzende - manchmal hunderte - von Leben. Orte, an denen es nur so wimmelt von Dingen, die für die Plünderer noblen Geblüts nur von minderem Interesse gewesen waren und nun von noch geringerem Interesse für diejenigen sind, welche sie zurücklassen mussten. Vielleicht ein eilig aufgegebener Krämerwagen, oder ein übersehenes Schmuckstück, ein Ring... Ein Ort für Landstreicher, Grabräuber, Leichenfledderer. Egal wie du uns nennen willst. Und ich? Nun, ich war zu dieser Zeit ein junger Mann. Ohne Heimat oder eine Familie und immer hungrig.

In Zeiten des Krieges waren solche verlassenen "Friedhöfe" alles andere als selten und je gründlicher die Schlächter, desto mehr Dinge harrten ihres neuen Besitzers: ... mir.

(ac/tom) Diskussion