Oleg
2002 im Monat April. Ostern war vorbei und Oleg war nach
Schwerin gekommen.
Nervenklinik, Jugendneuropsychiatrie, Station 23, 2-Bettzimmer.
Oleg war 12 Jahre alt und hatte eine Chromosomenabnomalie, also das
Downsyndrom. Er war in seinem Dorf „Bobitz“ nicht gut aufgehoben, was
die medizinische Hilfe anbelangte und so befanden seine Eltern, dass es das
beste sei, ihn nach Schwerin zu schicken. Oleg war nicht „krank“, aber
dies konnten die Eltern nicht verstehen.
Er hatte einen kurzen, runden Kopf, einen stets offenen Mund, aus der die
geschwollene Zunge blitzte und das herzhafteste Lachen, dass man sich
vorstellen kann. Für ihn gab es immer einen Grund sich zu freuen und zu
lachen. Dann leuchteten seine Kinderaugen schöner als Diamanten und
strahlten einem bis ins Herz. Es war wahre Freude die man erkannte, wenn man
ihn ansah und augenblicklich fing man an, mit ihm zu lachen.
Übrigens, ich heiße Thomas und arbeite als Krankenpfleger just auf genau
der Station, auf der auch Oleg lag. Vier Monate habe ich mich um Oleg
gekümmert, viel mit ihm gelacht, bis, ja bis.........
Der letzte Ausflug führte Oleg und mich nach Kiel, in den
botanischen Garten. „Ein Aut, zwei Aut, drei Aut“, er zählte
fortwährend die Autos, die an unserem vorbeifuhren und als wir nach zwei
Stunden in Kiel angekommen waren, verkündete er stolz: „Du Tommi, 722 Aut“.
Er lachte bis über beide Ohren, nahm meine Hand und drückte sie.
Natürlich waren es niemals 722 Autos gewesen, aber dies war im Grunde auch
egal und ich lobte ihn und streichelte sein wirres Haar.
Der Garten war gut besucht. Ein wenig zu gut, wie ich fand. Nicht das mir
Oleg peinlich war, aber ich vermied größere Zusammenkünfte, weil sich
immer ein paar Idioten darunter befanden. Besonders unter Schulklassen und
davon waren an diesem Sonntag genug da. Ich nahm mir vor, beim nächsten Mal
vorher anzurufen und zu fragen an welchen Tagen der Andrang gering ist.
Die ersten Blumen und Bäume ließen Olegs Augen leuchten und man sah, dass
es ihm sehr gefiel. Aufgeregt lief er von Blüte zu Blüte, betrachtete sie
und roch an ihnen. So bemerkte er auch die Blicke nicht, die auf ihn zielten
oder das Getuschel und Lachen in den vorbeigehenden Klassen.
Oleg war ganz auf die bunten Farben fixiert und staunte. Er nahm vielleicht
mehr als wir wahr. Vielleicht sah er die Farben der Blumen anders oder sie
erzählten ihm sogar Geschichten. Von manchen Blumen und Kakteen musste ich
ihn regelrecht wegschleifen, aber dann gab es auch Pflanzen, um die er einen
großen Bogen machte und dabei ein wenig zitterte. So gut es ging, erklärte
ich ihm die einzelnen Blumen und warnte ihn vor den spitzen Dornen der
Kakteen, denen er sich schon zu oft gefährlich genähert hatte.
Der botanische Garten war zum Teil überdacht und in diesen überdachten
Räumen, hatte man ein paar Klimazonen nachgebildet. Da gab es die Steppe,
die Wüste und zu guter letzt den Tropenwald, auf den ich mich für Oleg
besonders freute.
Als wir im Tropenwald angelangt waren, überschlugen sich meine und sicher
ganz besonders Olegs Sinne. Überall Grün, leuchtende Blüten und dann
diese warme, nasse und schwüle Luft, die man schon fast trinken konnte.
Ein schmaler Weg führte durch das grüne Dickicht und endete dann in der
Mitte, an einem künstlichen Teich, auf dem riesige Blätter lagen. Sie
sahen aus wie Teichrosenblätter, nur viel größer.
Neben dem Teich stand ein Schild mit einem Foto und weil wir uns bisher
jedes Schild angeschaut hatten und ich alles erklärte, was darauf zu sehen
war, gingen wir auch dort hin. Es dauerte sicher eine halbe Stunde, denn
überall blieben wir stehen und sonnten uns in der Pracht.
Als wir vor dem Schild standen, sahen wir auf dem Foto ein kleines Baby auf
einem der Blätter sitzen und darunter stand dann irgendwas von der
Tragkraft des Blattes. Ich erklärte Oleg das Bild und scherzte, dass sogar
ein Elefant, Olegs Lieblingstier, auf so einem Blatt Platz hätte und dabei
nicht untergehen würde. Da wurden seine Augen wieder zu kleinen Kristallen
und liebkosten auf eine unbekannte Art mein Herz.
Wie er bei uns auf der Station in den Spielen gelernt hatte, machte er nun
einen Elefanten nach und posaunte sehr laut. Natürlich hafteten wieder alle
Blicke an ihm und man lachte ihn schlichtweg aus. Auslachen kannte Oleg
nicht und deutete dies als freudiges mit ihm lachen und das spornte seine
Elefantenaktivität noch mehr an.
Als dann irgendwann die Puste aus dem kleinen Elefanten heraus geblasen war
und dafür meine Blase voll, setzte ich Oleg auf eine Bank an den Teich und
sagte ihm, er solle die Blätter auf dem Wasser zählen und sich nicht von
der Bank bewegen. Oleg nickte, lächelte und ich ging in Richtung Toiletten.
Ich ließ Oleg nicht gerne allein, aber ich wusste, dass er sehr traurig
gewesen wäre, wenn ich ihn aus dem schönen Tropenparadies, in ein
schlichtes kaltes Klo geführt hätte. Ich beeilte mich, aber ich weiß
jetzt, dass es nicht ausreichte....
Schon als ich die Toilettentür aufstieß, hörte ich das
Lachen vieler Menschen, schmunzelte ein wenig und stellte mir vor, dass
Oleg, der kleine Elefant, wieder fit war und nun durch die Menge posaunte.
Doch als ich in das Tropenareal eintrat verlor ich dieses Schmunzeln.
Vielleicht für immer!
Ich stand 3 Sekunden wie gelähmt da und heute kommen mir diese 3 Sekunden
wie 30 Minuten vor. Eine Menschenmenge stand um den Teich herum, lachte und
inmitten der Rosenblätter sah ich Oleg strampeln und um Hilfe brummeln, was
niemand außer mir verstand. Aus der Erstarrung gelöst, schubste ich im
Lauf ein paar Schüler zur Seite, sprang in den Teich und genau in dem
Moment, in dem Oleg aufhörte sich zu bewegen, hatte ich ihn gepackt und an
meinen Körper gedrückt.
Nun wurde die Masse aus Schülern stumm und eine Lehrerin bewegte die Klasse
zum weitergehen. Keine Ahnung, wo sie vorher gewesen war.
Behutsam legte ich Oleg zwischen ein paar Farne, wischte das nasse Grün aus
seinem Gesicht und wie ich ihn so liegen sah, kamen mir die Tränen. Mir
war, ich weiß nicht warum, in diesem Moment klar, dass Oleg sterben würde
und das sein Ende belacht wurde. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Seine
Augen waren trüb und von dem einstigen Strahlen, war nicht einmal mehr ein
einziger Funke zu sehen. Auch sein herzliches Lachen war verschwunden. Doch
er atmete, öffnete die Augen und sah sich meine Tränen an. So, als hätte
er nie welche gesehen und als hätte es mit zum Ausflug gehört. Leise
zählte er „Eine Tran, zwei Tran“.
Ich schaute ihn an und sah nun etwas sehr weises in ihm. Er strahlte Stärke
aus und zeigte keinerlei Angst vor dem, was kommen würde und mir war
bewusst, dass er sich über seinen Zustand völlig im Klaren war.
Auf einmal, schaute er hinter mich, deutete auf irgendwas, lächelte und
sprach dann mit allerletzter Kraft „Ein-Falt“. Ich drehte mich um,
erkannte den Spiegel, Oleg, mich und über Oleg einen wunderschönen
Schmetterling, der mir vorher noch gar nicht aufgefallen war. Noch einmal
sprach Oleg, nun merklich leiser: „Ein Falt“, ich weinte und erwiderte
mit einem gestellten, aber doch echtem Lächeln „Viel Falt Oleg, Vielfalt“.
Dann schloss Oleg seine Augen und ich spürte in meinen Armen, wie ganz
langsam das Leben aus seinem Körper schwand.
Nie wieder habe ich einem Kind soviel Zuneigung entgegengebracht, wie damals Oleg. Vielleicht, weil ich Angst habe noch einmal so einen Schmerz zu erleben. Vielleicht aber auch, weil Oleg ein ganz besonderer, liebenswerter Mensch war, der mir mehr beibrachte, als einer der sogenannten „weisen“ Leute.
Später stand in der Zeitung, man hatte wohl einen Augenzeugen befragt, Oleg sei wie verrückt auf die großen Blätter im Teich gesprungen und hätte immerzu „ Ein Blatt, zwei Blatt, drei Blatt“ geschrieen. Zu den Klassen und den Lehrern schwieg die Zeitung.
© Robert Zobel
(ac/robertzobel) Diskussion